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Die Gründerin und Philosophin Melusine Reimers zu neuen Arbeitskonzepten und ihren Herausforderungen

Ich hatte das Glück, Melusine Reimers im Jahr 2013 als Co-Founderin von academic experience Worldwide an meiner Seite zu haben. Mittlerweile ist sie CEO von READYMADE und promoviert in der Philosophie. Mit mir sprach sie per Voice Mail über die Themen New Work, Führung im modernen Verständnis und Leidenschaft.

Melusine, wie kamst Du dazu, READYMADE zu gründen?

Gegründet habe ich READYMADE gemeinsam mit Julian Kordt. Julian ist Tischler, ich habe Philosophie studiert. Schon während des Studiums habe ich ja mit Dir zusammen die NGO academic experience Worldwide e.V. gegründet, die jetzt gerade ihr fünfjähriges Bestehen feiert. Diese Erfahrung hat mich infiziert: Ich wollte nur noch auf diese Art und Weise arbeiten. Deshalb hatte ich gar keine Wahl: Ich musste wieder gründen!

Was genau meinst Du denn mit „auf diese Art und Weise arbeiten“?

Nun, ich war noch Studentin als wir aeWorldwide gegründet haben. Nach meinem Abschluss war ich davon überzeugt, dass ich mir jetzt – wie alle anderen – einen festen Vollzeitjob suchen, ein festes Gehalt und genau abgezählte Urlaubstage haben würde. Ich träumte davon, meine 40 Wochenstunden abzuarbeiten und danach meine Freizeit genießen zu können. In einer Stiftung meinte ich genau das gefunden zu haben. Jedoch hielt ich es kaum mehr als ein paar Monate aus. Erst als ich es nicht mehr hatte, wurde mir klar, was ich brauchte: eine gewisse Autonomie. Ich möchte Entscheidungen treffen können, die für mein Projekt relevant sind. Das bedeutet für mich, dass ich den Projekten entsprechend schnell und agil agieren kann, sodass meine Arbeit auch wirklich weiterhilft. Ich glaube einfach nicht daran, dass Vorgesetzte, die meist weit weg von den Projekten arbeiten, besser Entscheidungen treffen können als die Menschen, die sich als Expertinnen und Experten jeden Tag mit den Problemen auseinandersetzen. Wenn Entscheidungen immer erst x Hierarchiestufen hoch und dann wieder runter klettern müssen, dann behindert das das ganze Unternehmen. Für mich war diese Arbeitsweise nach dem Studium vollkommen neu – und das obwohl ich schon so viel während meines Studiums gearbeitet habe. Aber bei aeWorldwide haben wir mit sehr flachen Hierarchien gearbeitet und waren als Gründerinnen auch wirklich froh, wenn die Mitarbeitenden mitgedacht und eigenständig Entscheidungen getroffen haben. Das ganze kann und soll dabei natürlich im Dialog stattfinden, das ist ja auch der Kern von agilem Arbeiten: die Transparenz.

Mir wird bis heute nicht klar, wieso Organisationen anders arbeiten. Ich sehe den Sinn nicht, dass es einerseits Menschen gibt, die Entscheidungen treffen und andererseits solche, die sie umsetzen. In der Start-Up-Szene habe ich dann zum Glück noch mal bestätigt bekommen, dass es auch anders geht. Es gibt viel weniger spezialisierte Mitarbeitende, sondern eher Allrounder mit Fokus. Aber dadurch können alle Menschen sich immer auch in alle Themen mit einarbeiten und sehr schnell reagieren. Mein Eindruck ist, dass dies dazu führt, dass die Mitarbeitenden viel stärker von Eigenmotivation geprägt sind. Da guckt niemand auf die Uhr, ob es endlich 17 Uhr ist und er oder sie Feierabend machen kann. Es geht darum, die Projekte bis zum Ende umzusetzen und das mit Herzblut – ohne dabei von Vorgesetzten ausgebremst zu werden, die plötzlich doch einen anderen Fokus setzen wollen.

Ich sehe dabei eine erhöhte Effizienz, aber auch mehr Autonomie und Eigenständigkeit und dadurch auch mehr Leidenschaft. All das kommt dem Unternehmen doch zu Gute!

Das klingt spannend! Aber ist das denn wirklich auf alle Unternehmen übertragbar?

Melusine Reimers © Karsten Eichhorn

Ich glaube schon, dass das für jede Branche und jedes Projekt möglich ist. Natürlich ist es einfacher, so etwas bei einer Neugründung umzusetzen. Du kannst die Mitarbeitenden danach auswählen und die richtigen Mitarbeitenden wählen Dich aus. Bei einem bestehenden Unternehmen mit stabiler Belegschaft ist das sicherlich eine größere Herausforderung zu sagen: „So, wir machen jetzt alles anders!“ Dafür sind sehr viele kleine Prozesse notwendig. Es gilt erst mal zu verstehen, dass Arbeit einen enormen Teil unseres Lebens einnimmt und wir unsere Persönlichkeit nicht einfach so zu Hause lassen können. Wenn es um New Work geht, dann hat das auch immer ganz viel mit den Persönlichkeiten der einzelnen Mitarbeitenden zu tun. Der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin muss also in der Lage sein, all diese Persönlichkeiten mit an den Tisch zu holen und Teil des Changeprozesses werden zu lassen. Natürlich bringt das Risiken mit sich, aber nicht nur auf unternehmerischer Seite. Oftmals wird an New Work kritisiert, dass das ganze Subjekt mit seiner Persönlichkeit plötzlich Teil des kapitalistischen Lohnarbeitsprozesses werden soll und verwertet wird. Ich denke aber, dass unser Arbeitsmodell von mindestens 40 Wochenstunden uns quasi dazu zwingt, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was unsere Persönlichkeit in der Zeit macht. Ich habe für mich festgestellt, dass ich mein privates Ich ungern so viele Stunden meines Lebens im Schrank lassen möchte und dann nur abends für vier Stündchen wieder raus hole. Trotzdem zeigt sich, was das für ein schwieriger Prozess in Unternehmen ist und wie behutsam man damit umgehen muss. Nicht alle Menschen wollen so arbeiten.

Du sprichst die Themen Herzblut und Leidenschaft an. Ich bezweifle, dass alle Lohnarbeitsstellen so viel Sinn bieten können, dass die Menschen wirklich jeden Tag leidenschaftlich arbeiten. Ist das nicht auch ein großer Vorteil Eures Themas „Nachhaltigkeit“?

Klar haben wir da einen großen Vorteil mit einem solchen Thema und in der Start Up-Szene! Auch der Reiz „Klappt das jetzt?“ bei einer Neugründung passioniert natürlich. Wir locken dadurch ganz andere Leute an.

Aber ich glaube, dass auch bestehende Unternehmen mit bestimmten Themen motivieren können. Etwa mit dem Team! Ich habe eben über den großen Teil des Lebens gesprochen, den wir bei der Arbeit verbringen. Natürlich ist es viel schöner, diese Zeit mit einem netten Team zu verbringen, mit dem man viel teilt. Früher, wenn ich in der Schule den ganzen Tag mit meinen Freunden verbracht habe, war der Unterricht fast schon nebensächlich und ich bin irgendwie gerne hingegangen, weil ich meine Freunde sehen wollte. Es gilt also menschliche Verbindungen im Team herzustellen, die über Small Talk hinausgehen. Das heißt für Führungskräfte auch, sich die Frage zu stellen: „Was habe ich hier für ein Team? Passen die Leute zusammen?“ Das Verständnis für Persönlichkeit sollte also auch Teil von Bewerbungsgesprächen sein. Das kann unter Umständen bedeuten, Fragen zu stellen wie: „Was hören Sie gerne für Musik?“. Es müssen zudem Räume geschaffen werden, in denen sich die Menschen entspannt begegnen können.

Ein anderer Anreiz ist auch das Thema „Standort“. Wir arbeiten mit ReadyMade zum Beispiel in einem sehr großen Coworking-Space. Hier werden immer wieder Räumlichkeiten von großen Unternehmen angemietet. Ganze Teams werden einfach mal in eine andere Umgebung gesetzt, um Abwechslung und neue Denkräume zu schaffen.

Studien zeigen aber auch, dass Weiterbildungen zentral sind. Führungskräfte sollten den Mitarbeitenden ermöglichen, sich auf Konferenzen, Barcamps, in Seminaren oder Ähnlichem zu vernetzten und fortzubilden. Auch ruhig mal über den eigenen Arbeitsradius hinaus. Es geht darum, Teil der Diskurse zu werden, die im weitesten Sinne mit den Fachthemen zu tun haben. Zu oft werden leider nur die Führungskräfte zu Fortbildungen geschickt.

Was würdest Du Führungskräften aus klassischen Unternehmen raten, die Lust haben, sich auf New Work einzulassen, jedoch im Team dafür keinen Rückhalt finden? Kommen die Ideen da nicht an ihre Grenzen?

Unser Interview via Voice Mail

Ist man nicht gerade dafür Führungsperson, um sich in solchen Momenten etwas auszudenken? Sicherlich ist es kein gutes Mittel, dann einfach die Belegschaft auszutauschen. Ich glaube, dass jeder Mensch durch etwas zu motivieren ist, das außerhalb von Urlaub und Geld liegt. Und wenn es wirklich an den finanziellen Bedingungen liegt, dann gibt es auch fortschrittliche Führungskräfte, die selbst gewählte Lohn- und Urlaubsstrukturen einführen. Diese plötzliche Eigenständigkeit kann sehr motivierend sein. Bisher gibt es meines Wissens auch noch kein Unternehmen, welches das eingeführt hat und in welchem die Mitarbeitenden plötzlich nur noch im Urlaub sind. Ganz im Gegenteil wird den Menschen plötzlich klar, was das für das Unternehmen und somit auch ihre Stelle bedeutet. Es ist ja sehr einfach in einer Struktur zu arbeiten, in der man immer nur das tut, was einem gesagt wird. Das ist durchaus sehr angenehm: Du musst Dich nicht mit Dir und Deinen Bedürfnissen auseinandersetzen und kannst den Vorgesetzten immer den schwarzen Peter zuschieben. Und plötzlich bist Du selbst in der Verantwortung. Du musst Dich fragen: „Wieviel brauche ich? Wieviel will ich? Wieviel ist meine Arbeit innerhalb des Teams wert?“  Und darüber passiert ganz viel!

Und ein noch viel wichtiger Schritt ist es, herauszufinden, wie man die einzelnen Mitarbeitenden motivieren kann. Gerade bei kleinen Teams unter 30 Leuten sollte man die Menschen ja auch kennen und ins Gespräch gehen. Externe Beraterinnen und Berater können in solchen Momenten gut helfen. Es gibt heutzutage glücklicherweise Beratungen für alles und jeden!

Führungskräfte sollten nicht in eine „Nun stellt Euch doch nicht so an“-Haltung verfallen, sondern den Individuen im Team zuhören und herausfinden, wo der Schuh drückt. Das hat ja auch ganz viel mit Wertschätzung des Einzelnen zu tun. Dafür sollte es Führungspersonen geben!

Bald spreche ich mit Melusine noch mal genauer darüber, was eine Führungsperson für sie ausmacht und wie sie sich selbst in der Rolle wahrnimmt.

Merle Becker spricht an der Hochschule Hamm-Lippstadt über aeWorldwide, Postkolonialismus, Othering und Flüchtlinge

Melusine Reimers und Merle Becker sprechen an der Hochschule Hamm-Lippstadt über aeWorldwide, Postkolonialismus, Othering und Flüchtlinge (2016)