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Boris Palmer, Tübinger Oberbürgermeister für die  Bündnis 90/Die Grünen, polarisiert. Sein Buch „Wir können nicht allen helfen“ sorgte nicht nur bei Mitgliedern anderer Parteien, sondern auch bei Parteifreunden für einen Aufschrei. Nun stolperte ich über ein Interview im Stern, in welchem er sich für seine Aussagen rechtfertigt. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich: Palmer bedient sich populistischer Scheinwahrheiten und konservativer Parolen.

Ich hätte das Interview wahrscheinlich gar nicht gelesen, oder mich nur kurz innerlich darüber aufgeregt, wenn nicht eine Person, die ich sehr schätze, zu mir gesagt hätte: „Das klingt doch eigentlich alles sehr logisch und vernünftig, was Boris Palmer da sagt.“ Wenn diese Person den Phrasen des Tübinger Oberbürgermeisters so schnell Glauben schenkt, dann möchte ich gar nicht wissen, was er bei anderen Menschen damit erreicht. Also möchte ich mir kurz die Zeit nehmen und die Argumente Palmers überprüfen.

Ein faires Einwanderungsgesetz?

In dem Interview mit dem Titel „Wir reden über Flüchtlinge nicht offen“ im stern Nummer 47 vom 16.11.2017 setzt sich Boris Palmer dafür ein, Menschen ohne Aufenthaltsrecht „konsequent“ abschieben zu wollen. Nur einen Satz später sagt er jedoch, dass er von den Grünen erwarte, ein Einwanderungsgesetz zu gestalten, das es Menschen trotz Ablehnungsbescheid erlaubt, in Deutschland zu bleiben, „wenn sie unsere Sprache lernen, ihr eigenes Geld verdienen und unsere Gesetze achten“. Diese Menschen hat er dann aber doch bereits „konsequent“ abgeschoben, oder sehe ich das falsch? So steigt er direkt mit einem Widerspruch in das Interview ein.

Problemlösung: Schließung der Balkanroute?

Palmer sagt laut Stern: „Wir haben das Problem inzwischen weitestgehend im Griff. Der tägliche Zustrom ist um 90 Prozent zurückgegangen, weil andere es für uns gelöst haben.“ Er bezieht sich dabei auf die Schließung der Balkanroute. Doch was genau meint er mit „Problem lösen“? Was ist das Problem? Der „Zustrom“? Nicht etwa die Fluchtursachen? Es müsste gar keine so geschimpften „Flüchtlingsströme“ geben, wenn es keine Fluchtgründe gäbe. Und wer sich mit Fluchtgründen etwas genauer auseinandersetzt, wird schnell merken, dass diese nicht unabhängig von uns und unserem Alltag passieren. Die nationale sowie die EU-Politik sind genauso grundlegend für Fluchtgründe wie unser Konsumverhalten und auch historische Entscheidungen vonseiten europäischer und nordamerikanischer Staaten (und historisch meint zum einen natürlich den Kolonialismus mit seinen Grenzziehungen, aber auch den Kalten Krieg und somit beispielsweise die Unterstützung der Taliban sowie die „Demokratisierungskriege“ der USA mit Unterstützung europäischer Regierungen). Als Grüner sollte Palmer zudem auch Themen wie den Klimawandel im Kopf haben, welcher vor allem durch Industriestaaten vorangetrieben wird, unter dem aber vor allem Menschen in ärmeren Staaten leiden (mehr dazu hier). Und natürlich auch die Verbindungen all dieser Probleme. Ich denke da beispielsweise an Äthiopien, welches als Partnerland der USA immer noch als demokratisch gilt, jedoch Minderheiten verfolgt. Der Klimawandel sorgt dort immer wieder und regelmäßig für Dürren. Hungersnöte und Landgrabbing im Namen der Weltbank führen dazu, dass das wenig fruchtbare Land mit Rosen und Tulpen bepflanzt wird, welche dann billig bei uns im Supermarkt verkauft werden. Wer dagegen auf die Straße geht, wird verhaftet und gefoltert. Ein schönes Beispiel, um das Zusammenspiel all dieser Faktoren aufzuzeigen. Und trotzdem werden Menschen aus Äthiopien immer noch abgeschoben, denn das Land gilt als demokratisch. Welches dieser Probleme wurde denn nun gelöst? Keines. Boris Palmer sieht das Problem einzig in den Menschen, die fliehen, weil sie keine andere Wahl mehr haben und die Lösung des Problems besteht für ihn also nur darin, Grenzen zu schließen und somit Menschenrechte zu missachten.

Sexuelle Übergriffe durch Geflüchtete?

Doch er geht noch weiter: „Jetzt lesen die Tübinger in der Zeitung von Vergewaltigungen.“ Und tatsächlich wurden im vergangenen Jahr ja einige Male Statistiken in den Medien zitiert, die das Gefühl gaben, dass das Risiko vergewaltigt zu werden durch die Zuwanderung von Menschen gestiegen sei. Jedoch glauben dies auch nur Menschen, die sich mit Statistiken nicht auskennen oder sich nicht die Zeit nehmen wollen, sich diese genauer anzusehen. Und ich denke, dass es die Aufgabe eines Oberbürgermeisters ist, diese Ängste und Vorurteile aufzuklären und Statistiken zu erklären, statt weiter Angst zu schüren.

Ich helfe gerne:

Von Ängsten und Unwahrheiten – Boris Palmer zum Thema Flüchtlingspolitik

Von Ängsten und Unwahrheiten – Boris Palmer zum Thema Flüchtlingspolitik

Die bei der Polizei angezeigten Sexualstraftaten stiegen im Jahr 2016 an. Dies bedeutet aber nicht, dass es tatsächlich mehr Straftaten gab, sondern heißt ggf. einfach nur, dass die Sensibilität für das Thema gestiegen ist und Frauen sich nun eher trauten, Anzeige zu erstatten. 2011 lag die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau zwischen 16 und 40 Jahren Opfer sexueller Gewalt wird, bei 2,4 Prozent. 2016 stieg die Zahl auf 2,6 Prozent. 1992 lag sie noch bei 4,7 Prozent – das ist fast das Doppelte. Die Zahlen zeigen also: Ganz so schlimm ist es gar nicht. Allerdings: Bei den angezeigten Tatverdächtigen handelte es sich bei 14,9 Prozent um Zugewanderte. Das ist durchaus eine sehr hohe Zahl! Problematisch ist aber, dass diese Zahl alle Anzeigen umfasst, unabhängig davon, ob die Menschen auch wirklich verurteilt wurden. Sie ist keineswegs ein Abbild der tatsächlichen Kriminalität im Land. Untersuchungen zeigen, dass Menschen mit Migrationshintergrund sehr viel schneller angezeigt werden, als Einheimische. Und dies verzerrt die Statistik stark. Die Wahrscheinlichkeit als ausländisch wirkender Mensch nach einem Sexualdelikt angezeigt zu werden, ist zweieinhalb Mal so hoch wie die Wahrscheinlichkeit als einheimisch wirkender Mensch angezeigt zu werden.
Ein weiterer Verzerrfaktor ist die Tatsache, dass viele junge Männer geflüchtet sind. Dies ist in allen Teilen der Gesellschaft die Gruppe mit der höchsten Kriminalitätsrate. Um geflüchtete und einheimische Menschen im Hinblick auf Straftaten wirklich vergleichen zu können, müssten die beiden Gruppen gleich aufgestellt sein.

Ergänzend dazu möchte ich gerade in Bezug auf die #metoo-Debatte noch anmerken, dass Sexualstraftaten offensichtlich nichts mit dem Aufenthaltsstatus oder dem Herkunftsort zu tun haben. Boris Palmer sollte dies wissen und verängstigten Bürgern genau dies vermitteln. Leider kommt er dieser Aufgabe nicht nach.

Nehmen die Einwanderer uns was weg?

Stattdessen bedient er sich in dem Interview eines weiteren Klischees: „Wenn die Leute den Eindruck gewinnen, dass sie dieses oder jenes nicht mehr bekommen wegen der Flüchtlinge – dann haben wir verloren.“ Leider geht er nicht darauf ein, was genau die Menschen glauben, wegen der geflüchteten Menschen nicht mehr zu bekommen. Doch er gesteht ein: „Es war ein schlimmer Fehler, den sozialen Wohnungsbau zu beenden.“ Statt hier also eine Minderheit zu benutzen, um eigene politische Fehlentscheidungen zu vertuschen, sollte es doch seine Aufgabe sein, sich für Menschen einzusetzen, die Hilfe brauchen – ob mit oder ohne Fluchtgeschichte. Ich warte immer noch auf die Person, die mir wirklich mal aufzeigt, inwiefern es ihr schlechter geht, weil Menschen nach Deutschland geflohen sind.

Unglück für Deutschland?

Boris Palmer zitiert aus seinem Buch: „Die Flucht nach Deutschland war ein Glück für die Flüchtlinge, nicht für Deutschland.“ Hier stellt sich mir die Frage: Geht es gerade wirklich darum, wer mehr Glück hat? Menschen, die ihr Leben, ihre Familien, ihre Freunde und alles, was sie bisher kennen, hinter sich lassen müssen; Menschen, die ihr Leben riskieren, zum Teil Monate oder Jahre unterwegs sind und in ein Land kommen, dessen Sprache sie nicht kennen und in dem sie keinerlei Netzwerk oder Freunde haben – wollen wir wirklich sagen, dass diese Menschen mehr Glück haben als wir, die wir bei unserer Familie und Freunden bleiben, die wir nicht um unser Leben oder um unsere nächste Mahlzeit zittern müssen, die wir ein Dach über dem Kopf haben? Ich bin wirklich entsetzt über diese Aussage. Zudem ist sie auch noch grundlegend falsch. Boris Palmer bezieht sich nämlich darauf, dass „die meisten nicht die Qualifikationen für unseren Arbeitsmarkt mitbringen.“ Fakt ist aber: Viele der Menschen, die hier ankommen, bringen Qualifikationen mit, die in Deutschland durchaus gebraucht würden. Problematisch sind hier aber immer noch die Anerkennung und auch das Sprachniveau.

Unglück für Deutschland?

Unglück für Deutschland?

Für die allermeisten Arbeitsstellen braucht man ein Deutschniveau von mindestens B2, oftmals auch C1. Der Staat zahlt anerkannten Asylberechtigten jedoch nur Deutschkurse bis zu einem Niveau von B1. Dann fehlen noch bis zu 3000€, die die Menschen selten selbst aufbringen können. Dadurch stehen sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung – auch wenn sie gerne wollten. Hier wird also deutlich: Auf der einen Seite suchen Fachkräfte eine Arbeitsstelle, auf der anderen Seite werden sie gebraucht. Aber der Staat verhindert selbst, dass dieses Puzzle zusammengeführt werden kann. Natürlich gibt es auch die Gruppe junger geflüchteter Menschen, die ohne Ausbildung bei uns ankommen. Da heißt es schnell: Der ist ja schon 20 Jahre alt und hat keinen Schulabschluss. Der ist wohl faul. Dabei sollten wir jedoch nicht vergessen, dass die Menschen oftmals schon jahrelang auf der Flucht sind und vorher in Krisenregionen lebten, in denen ihnen keine durchgehende Schulbildung zur Verfügung stand. Umso wichtiger ist es doch dann, diese jungen Menschen hier auch in das Bildungssystem zu integrieren – sie sind doch auch ökonomisch eine große Chance für Deutschland (etwa, wenn wir an unser Rentensystem denken). Leider scheitert es auch hier oft, denn Regelschulen können meist nicht mehr besucht werden, wenn die Menschen über 18 Jahre alt sind und Abendschulen kosten Geld. Mir stellt sich hier die Frage, wieso Palmer die Zeit nicht besser nutzt und die deutsche Bürokratie flexibilisiert, sodass wir alle davon profitieren, statt Angst und Hass zu schüren.

Und zu guter Letzt möchte ich zu dem genannten Zitat noch sagen: Na und? Selbst wenn Boris Palmer der Meinung ist, für Deutschland bedeuten die geflohenen Menschen kein „Glück“, so ändert das rein gar nichts an dem grundlegenden Menschenrecht auf Asyl und an unserer humanitären Verpflichtung. Wenn dies bedeutet, dass wir in Deutschland ein wenig an unseren Strukturen arbeiten müssen und vielleicht auch den einen oder anderen Euro ausgeben müssen, dann ist das halt so (und hier verweise ich gerne noch mal auf die oben angeschnittenen Fluchtgründe und unsere Verantwortung in Bezug auf diese).

Rassismus: Das wird man jawohl noch sagen dürfen?

Boris Palmer rechtfertigt sich in dem Interview auch dafür, weshalb er all diese Themen anspricht: „Man muss die Tatsachen nüchtern und gelassen aussprechen, dann hat die AfD nicht die Chance, den Eindruck zu erwecken, nur sie würde die wahren Probleme erkennen und ansprechen.“ Und ergänzend dazu sagt er: „Was jeder sehen kann, muss auch gesagt werden.“ Die oben stehenden Ausführungen zeigen jedoch, dass es hier gar nicht um „wahre Probleme“ geht, sondern Probleme werden konstruiert und Ängste geschürt, um Wählerstimmen vom rechten Rand zu gewinnen. Und nur weil einige Menschen sagen, sie würden etwas sehen, heißt das nicht, dass es sich um Fakten handelt. Realität wird unterschiedlich wahrgenommen und gerade in Zeiten von Algorithmen in sozialen Netzwerken ist dies zentraler denn je. Palmer sollte nicht vergessen: Wer rechts wählen möchte, der wird das Original nehmen. Wieso sollte die Kopie gewählt werden? Dieser Plan wird nicht aufgehen.

Erschreckend ist in diesem Zusammenhang ein facebook-Post des Grünen-Politikers, welcher auch im Interview angesprochen wird und den Palmer nach eigener Aussage so nicht mehr wiederholen würde. Er fotografierte heimlich eine Gruppe migrierter Menschen, die wohl schwarzgefahren sind. Dazu schreibt er: „Zugfahrten haben sich verändert in den letzten Jahren. Ist es rassistisch, das zu beschreiben? Ist es fremdenfeindlich, sich dabei unwohl zu fühlen?“
Glaubt Boris Palmer allen Ernstes, dass Schwarzfahren etwas mit der Herkunft zu tun hat? Glaubt er, dass Deutsche nicht Schwarzfahren? Das würde bedeuten, dass er nicht sehr oft mit den Öffentlichen fährt, denn da würde er eines besseren belehrt (womit er abermals in der falschen Partei wäre).

https://www.facebook.com/ob.boris.palmer/posts/1502458899793637

Wir können nicht allen helfen?

In Bezug auf sein provokantes Buch sagt der Oberbürgermeister: „Es gibt weltweit 65 Millionen Menschen auf der Flucht und wir können objektiv nicht allen helfen.“ Damit mag er zunächst Recht haben, jedoch müssen „wir“ (also Deutschland, nehme ich an) auch nicht allen helfen. Die allermeisten Menschen sind innerhalb ihrer Herkunftsländer auf der Flucht oder in den Nachbarländern. Nur ein sehr geringer Anteil kommt nach Europa und noch weniger davon erreichen Deutschland. 84 Prozent aller geflüchteten Menschen leben in Entwicklungsländern. Die sechs Länder, die am meisten geflüchtete Menschen aufgenommen haben sind Pakistan (1,4 Millionen), Libanon (1 Millionen), Iran (979.400), Uganda (940.800) und Äthiopien (791.600). Die Aussage von Palmer ist also richtig und doch sinnlos. Abgesehen davon möchte ich an dieser Stelle nun ein drittes Mal auf das Thema Fluchtursachen hinweisen (s. o.).

Wir bestimmen, wer kommt?

Auch auf die Art der Menschen, die hier bei uns ankommen, geht Boris Palmer ein und er hat eine Meinung dazu „Es ist nicht effizient, wenn Alte, Kinder und Frauen in den Krisenregionen bleiben und die arbeitsfähigen jungen Männer bei uns dann in den Asylbewerberheimen sitzen. […] Wäre es nicht besser, wir bestimmen, wer kommt?“. Mir stellt sich erst mal die Frage, wie wir die humanitäre Verpflichtung und das Menschenrecht auf Asyl mit dem Wort „effizient“ zusammen bringen wollen. Geht es hier gerade um grundlegende Rechte, die wir alle haben und für die wir uns alle einsetzen sollten oder geht es um Wirtschaftlichkeit? Momentan muss ich nicht fliehen. Ich habe unheimlich viel Glück, in Deutschland in einer Familie geboren zu sein, die mir neben dem Staat finanzielle und emotionale Sicherheit bietet. Mit welchem Recht sollte ich es anderen verwehren, nach genau dem zu streben? Abgesehen davon ist es durchaus logisch, dass mehr junge Männer als Alte, Kinder und Frauen fliehen. Denn die Grenzen nach Europa sind faktisch geschlossen und die Flucht sehr gefährlich, langwierig und anstrengend. Wer würde da nicht einen starken, jungen Mann schicken, in der Hoffnung, dass dieser seine Familie bald nachholen kann?

Einladung: Produzieren wir Flüchtlingsströme?

Einladung: Produzieren wir Flüchtlingsströme?

Einladung: Produzieren wir Flüchtlingsströme?

„Die Botschaft: Du musst es nur nach Deutschland schaffen, dann kannst du dort in jedem Fall bleiben. So produzieren wir neue Flüchtlingsströme.“, ergänzt Palmer. Hinter der Aussage steht die Annahme, dass Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, ihre Heimat und Familie verlassen, weil sie der Meinung sind, dass Deutschland sich öffnet. In Wirklichkeit aber fliehen sie vor Krieg, Verfolgung, Armut, Hunger und fehlenden Perspektiven und suchen nach einem Ort, an dem sie sicher sind und an dem sie sich ein neues Leben aufbauen können. Es werden dadurch sicher keine neuen „Flüchtlinge“ „produziert“! Dies geschieht vielmehr über unseren Konsum und unsere Politik (und abermals: siehe Fluchtursachen).

Anspruchsvolle „Flüchtlinge“?

Boris Palmer sagt darüber hinaus, er erlebe „ Fälle von Unwilligkeit, Anspruchsdenken, sexuellen Übergriffen.“. Das ist aber auch frech, dass mündige, erwachsene Menschen sich dazu äußern, was sie wollen und was nicht. Leider musste auch ich in meinem Ehrenamt mit geflüchteten Menschen oftmals erleben, dass Helfende nicht damit umgehen konnten, wenn ihre Angebote abgelehnt wurden. Sie waren vor den Kopf gestoßen, wenn der 50-jährige promovierte Ökonom aus Eritrea nicht mit Fußball spielen wollte. Zu diesem Thema kann ich ein wunderbares Video empfehlen, siehe hier. Und was die sexuellen Übergriffe angeht, möchte ich noch mal an die #metoo-Debatte erinnern, welche deutlich macht, dass das Problem weniger der Migrationshintergrund ist, sondern vielmehr das Geschlecht und gesellschaftlich konstruierte Machthierarchien.

Tragen wir bald alle Kopftuch?

Tragen wir alle bald Kopftuch?

Tragen wir alle bald Kopftuch?

Doch Boris Palmer bedient sich aller Klischees und lässt auch das Thema Kopftuch nicht aus: „Wenn eine hinreichend große Zahl von Migrantinnen Kopftuch trägt, kann das zum Standard, zur gesellschaftlichen Konvention werden.“ Hier stellt sich mir die Frage, welche Position der Politiker in Bezug auf Toleranz, Religionsfreiheit und auch die einfache Freiheit, zu tragen was man möchte, einnimmt. Nur weil Frauen muslimischen Glaubens teilweise Kopftücher tragen, wird dies nicht dazu führen, dass andere Frauen dies auch tun. Genauso soll es Menschen offen stehen, eine Kippa zu tragen oder andere religiöse Kleidungsstücke, wenn ihnen danach ist. Eine selbstbestimmte Wahl der Religion und eine selbstbestimmte Wahl der Kleidung sollte in einem demokratischen, offenen und säkularen Staat selbstverständlich sein.

Was ist die deutsche Identität?

Doch genau dessen scheint sich Palmer nicht bewusst. Er fordert, dass Deutschland sich Klarheit „über die eigene Identität“ schaffen solle und die „Grenzen der Belastbarkeit definieren [müsse], weil die Neuen sonst in Parallelgesellschaften unter sich bleiben.“ Aber, was ist denn eine deutsche „Identität“? Ist diese gleichzusetzen mit der von CDU/CSU stets hochgehaltenen „deutschen Leitkultur“? Leider konnte mir bisher niemand erklären, was genau diese umfasst. Die Morde der NSU, an Angriffe auf Homosexuelle und angezündete Asylbewerberunterkünfte sind meist auf Deutsche zurückzuführen – ist das also Teil der Identität? Die von Boris Palmer genannten Parallelgesellschaften gibt es offensichtlich schon zuhauf – ob mit oder ohne geflüchtete Menschen. Weitere Parallelgesellschaften zu verhindern ist aber Aufgabe der Politik, und dies geht vor allem durch eine gute Integrations- und Inklusionspolitik. Die bereits genannten Hindernisse zum Einstieg in die Arbeitswelt oder in das Bildungssystem für zugewanderte Menschen aus dem Weg zu räumen wäre etwa ein großer Schritt in die richtige Richtung. Oder auch die Unterbringung von geflüchteten Menschen in der Mitte der Gesellschaft, statt die „Abschiebung“ in Lager weit außerhalb der Städte und ohne Zugang zu Sprache, Kultur und Gesellschaft des neuen Heimatlandes. Auch eine Beschleunigung des Asylverfahrens wäre förderlich.

Doch der Oberbürgermeister scheint diese Probleme nicht zu sehen, und geht stattdessen davon aus, dass durch zuwandernde Menschen „kulturelle Grundachsen verschoben werden.“ Als Beispiel nennt er Übergriffe auf Homosexuelle. Wer sich jedoch mit dieser Thematik auseinandersetzt, wird schnell sehen, dass es diese Übergriffe und auch eine allgemeine Diskriminierung von Homosexuellen zuhauf auch unter Einheimischen gibt. Ich selbst musste vor nicht allzu langer Zeit Zeugin eines Angriffs auf ein queeres Jugendzentrum werden. Auch das Abstimmungsverhalten einiger der Mitglieder des Bundestages in Bezug auf die Ehe für Alle zeigt, wie stark homosexuelle Beziehungen immer noch diskriminiert werden. Dass Palmer nun ausgerechnet dieses Beispiel nutzt und somit eine Minderheit gegen eine andere ausspielt, erinnert doch sehr an die Rhetorik der AfD.

Ausbremsen des Lernerfolgs an Schulen?

Ausbremsen des Lernerfolgs an Schulen?

Ausbremsen des Lernerfolgs an Schulen?

Palmer zeigt sich volksnah und sagt, er würde öfter von besorgten Bürgerinnen und Bürgern gefragt, wie viele Flüchtlingskinder in einer Schulklasse aufgenommen werden können, ohne dass der Lernerfolg der anderen gebremst wird. Er ergänzt: „Wir haben in Tübingen Vollbeschäftigung, ich finde fast keine Lehrer, Sozialarbeiter oder Erzieherinnen.“ Mal abgesehen von dem Genderproblem, das sich hier auftut (Wieso sind Erzieherinnen weiblich, während Lehrkräfte männlich sind?), steht diese Aussage nun im Widerspruch zu der zu Beginn genannten, dass nur junge Männer nach Deutschland kämen. Offensichtlich gibt es also doch Familien oder zu mindestens Kinder. Was aber noch viel zentraler ist: Ich musste die Erfahrung machen, dass viele Menschen, die hier bei uns ankommen, gerne wieder in ihren alten Berufen arbeiten würden, dies aber aufgrund strenger bürokratischer Regeln nicht können. Und es gibt eine nicht zu missachtende Anzahl von geflüchteten Menschen, die vorher in pädagogischen Berufen gearbeitet haben. Aber gerade hier ist die Anerkennung besonders schwierig, da Lehramt in vielen Bundesländern immer noch ein Staatsexamen voraussetzt, welches nicht so einfach mit einem Bachelor oder Master vergleichbar ist. Auch Lehrkräfte aus anderen europäischen Ländern haben es schwer (und selbst ein Bundeslandwechsel ist für Lehrkräfte schwierig). An diesen Stellschrauben müsste also gedreht werden, dann könnte nicht nur der Lehrkräftemangel angegangen werden, sondern auch ein gutes Lernumfeld für alle schulpflichtigen Kinder geschaffen werden. Denn Lehrkräfte mit eigenem Flucht- und Migrationshintergrund helfen Kindern mit ähnlichem Hintergrund, da sie als Vorbild dienen und die Elternarbeit erleichtern. Ich frage mich außerdem, wieso Palmer davon ausgeht, dass geflüchtete Kinder automatisch den Lernerfolg der Klassenkamerad*innen „ausbremsen“. Kinder kommen zum Sprachenlernen zunächst in sogenannte Sprach- oder Intensivklassen. Hier haben sie Zeit, die deutsche Sprache zu lernen, bevor sie in die Regelklassen kommen. Sie sprechen also mindestens ein Niveau von B1, wenn sie an dem Regelunterricht teilnehmen. Das heißt, die Gefahr eine „Bremse“ ist sehr gering und wieder schürt Palmer Ängste, statt sich auf Tatsachen zu beziehen.

Was heißt das nun für Boris Palmer?

Es wird deutlich: Palmer nutzt Vorurteile, Ängste und Hass, um auf Wählerfang am rechten Rand zu gehen. Und er schafft es, das Ganze eloquent so darzustellen, als sei es logisch und basiere auf Fakten. Dies ist gefährlich, denn es unterstützt die Bestrebungen rechter Gruppen und Parteien, die Diskurshoheit zu übernehmen. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit werden die Tore geöffnet – direkt in die Mitte der Gesellschaft. Boris Palmer sollte seine Rolle reflektieren und sich genau darüber bewusst werden. Wahlen sind es nicht wert, dieses Risiko einzugehen!

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