Die Britin Jane Goodall ist wohl die bekannteste Verhaltensforscherin der Welt. In Zeiten, in denen nur wenige Frauen in der Forschung arbeiten konnten, revolutionierte sie die Sicht auf Tiere in der Forschung. Mit mittlerweile dreiundachtzig Jahren reist sie immer noch um die Welt, um sich für Tier, Mensch und Umwelt einzusetzen. // von Merle Becker
Becker |
Frau Dr. Goodall, Sie sind als junge Frau ohne jegliche universitäre Bildung alleine nach Afrika gegangen und wurden trotzdem als Doktorandin angenommen. Was war Ihr Antrieb? Wie konnten Sie so viel Mut aufbringen und so viel Motivation entwickeln?
Goodall |
Ich bin mit einer Liebe zu Tieren geboren worden. Als ich zehn Jahre alt war, las ich Tarzan und entschied schon damals, daß ich nach Afrika gehen wollte, sobald ich erwachsen wäre. Ich wollte unter wilden Tieren leben und Bücher über sie schreiben. Alle lachten über meine Pläne. Es war Krieg, wir hatten kein Geld, nur Bücher aus der Bibliothek. Afrika war weit weg – der dunkle Kontinent, über den wir kaum etwas wußten. Und ich war nur ein kleines Mädchen. Aber meine Mutter sagte immer: „Wenn du das wirklich möchtest, mußt du hart dafür arbeiten. Du mußt alle Möglichkeiten nutzen und darfst niemals aufgeben!“ Mich hat meine Liebe zur Natur und zu den Tieren immer motiviert und vorangetrieben.
Becker |
Sie machen keinen Unterschied zwischen Menschen und Tieren und sehen beide als Einheit. Ihrer Meinung nach können wir Tieren nicht helfen, wenn wir nicht auch den Menschen helfen. Was meinen Sie damit?
Goodall |
Schimpansen sind uns sehr ähnlich, sowohl biologisch (die menschliche DNA unterscheidet sich von der der Schimpansen nur um ein Prozent!) als auch in ihrem Verhalten. Sie küssen und umarmen sich, sie halten Händchen, pflegen sich gegenseitig, betteln mit der ausgestreckten Hand um Essen, prahlen, bauen und benutzen Werkzeuge, haben eine dunkle und aggressive Seite und töten. Aber sie lieben auch und haben eine wahrhaftig altruistische Seite. Sie zeigen uns, daß es keine scharfe Linie gibt zwischen uns und dem Reich der Tiere. Wir sind alle Teil dieses wunderbaren Naturreiches. Der zweite Teil der Frage ist ein wenig schwieriger zu beantworten. Als ich 1960 nach Gombe in Tansania ging, war die Region Teil des äquatorialen Waldgürtels. Als ich dreißig Jahre später mit einem kleinen Flugzeug über dieselbe Gegend flog, war der Nationalpark nur noch eine Oase zwischen nackten Hügeln. Zu viele Menschen führten zu übernutzten, unfruchtbaren Böden. Gerodete Steilhänge erodierten. Die Menschen unternahmen verzweifelt alles, um ihre Familien zu ernähren oder Geld mit Holzkohle zu verdienen, Menschen, die in bitterer Armut lebten und um ihr Überleben kämpften. Als ich das sah, wurde mir klar, daß wir die Schimpansen nicht retten können, solange wir nicht das Leben der Menschen verbessern.
Becker |
Viele Wissenschaftler sträuben sich davor, interdisziplinär zu arbeiten. Sie sind entweder Biologen oder im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Hatten Sie Probleme, Unterstützer für Ihre Forschungen zu finden?
Goodall |
Wir gründeten das Jane Goodall Institute schon sehr früh, 1974. Es ist eine Institution mit drei großen Zielen: Es sollen Primatenforschung betrieben, natürliche Habitate geschützt und ein Bewußtsein für all das geschaffen werden. In anderen Worten: Das Institut steht für Forschung, Umweltschutz und Bildung. Wir sammeln seit jeher Gelder für alle drei Bereiche.
Becker |
Nachhaltigkeit wurde in den vergangenen Jahren zu einem Modewort. Was bedeutet der Begriff für Sie?
Goodall |
Die Vorstellung, daß es unbegrenztes wirtschaftliches Wachstum auf einem Planeten mit begrenzten natürlichen Ressourcen gibt, ist absolut absurd. Bereits im Sommer haben wir mehr natürliche Ressourcen verbraucht, als die Erde in einem Jahr bilden kann. Wir müssen lernen, einen harmonischen Lebensstil zu entwickeln: mit der Natur, mit Recycling, grüner Energie und weniger Geldausgaben. Wir müssen unseren verschwenderischen Lebensstil, bei dem jeder mehr will, als er oder sie braucht, verändern.
Becker |
Worum geht es bei dem Projekt „Roots and Shoots“?
Goodall |
Ich arbeite zusammen mit vielen Menschen sehr hart dafür, Tiere und die Umwelt zu schützen und zu bewahren. Wenn heranwachsende Generationen nicht lernen, bessere Erdverwalter zu sein, als wir es waren, war unsere ganze Arbeit sinnlos. „Roots and Shoots“ ist ein Projekt, das es mittlerweile in fast hundert Ländern gibt, mit Teilnehmern jeden Alters, vom Kind bis zu Universitätsangehörigen. Sie alle arbeiten an drei Projekten: Sie wollen die Welt besser machen für Menschen, für Tiere und für die Umwelt. Egal, wo ich hinkomme, sehe ich junge Menschen mit strahlenden Augen, die mir erzählen, was sie machen, um die Welt zu verbessern. Das gibt mir Hoffnung.
Becker |
Sie arbeiten in vielen afrikanischen Dörfern, aber auch in anderen Regionen der Welt, etwa in Österreich. Brauchen junge Menschen auf der ganzen Welt die gleiche Unterstützung?
Goodall |
Zwar brauchen alle jungen Menschen viel Unterstützung, aber in unterschiedlicher Weise. Kinder und Jugendliche in Armut müssen bestärkt werden. Sie müssen merken, daß sie etwas verändern können. Junge Menschen, die in materiellem Reichtum aufwachsen, müssen lernen, über die Folgen ihres Verhaltens nachzudenken. Das heißt, sie müssen alle kleinen Entscheidungen, die sie jeden Tag treffen, reflektieren: was sie essen, tragen, kaufen und so weiter. Aber alle jungen Menschen sollen und wollen erhört werden. Wir müssen sie dazu ermutigen, darüber nachzudenken, welche Rolle sie im Rahmen eines positiven Wandels spielen können. Wir müssen sie dazu ermutigen, die Ärmel hochzukrempeln und etwas zu tun.
Becker |
Sie beraten und unterstützen Menschen in afrikanischen Dörfern. Gleichzeitig ist es im Wesentlichen die industrialisierte Welt, die für die schrumpfende Biodiversität und den Klimawandel verantwortlich ist. Historisch betrachtet – aber auch aus der Perspektive der Gegenwart – tragen die europäischen und nordamerikanischen Staaten eine große Verantwortung für die Probleme auf dem afrikanischen Kontinent. Wie gehen Sie mit den Hierarchien um?
Goodall |
Wir müssen extreme Armut lindern, egal wo. Wenn du sehr arm bist, fällst du den letzten Baum, um zu überleben. In städtischen Regionen kaufst du das billigste Essen und machst dir keine Gedanken darüber, wie es hergestellt wurde, wo es herkommt oder ob im Produktionsprozeß Menschen oder Tiere gelitten haben. Du hast keine Wahl! Wir müssen vom extravaganten Lebensstil der reichen Teile der Weltbevölkerung wegkommen und lernen, mit denjenigen zu teilen, die nicht genug haben.
Becker |
Können Sie uns ein wenig zu ihrem „TACARE“-Programm erzählen?
Goodall |
Das ist ein ganzheitliches Programm, das wir in zwölf Dörfern in der Nähe von Gombe implementiert haben. Ein Team von ortsansässigen Tansaniern geht in die Dörfer und fragt die Menschen, wie man ihnen am besten helfen kann. Wir kümmern uns beispielsweise darum, die Fruchtbarkeit der Böden ohne Chemie wiederherzustellen, das Land zu schützen, damit wieder Bäume wachsen, Erosionen zu kontrollieren oder die Versandung von Flüssen zu verhindern. Außerdem schaffen wir verbesserte Bildungs- und Gesundheitsangebote und üben Druck auf die lokalen Behörden aus, mehr zu tun, da auch wir nur begrenzte Mittel haben. Auch Mikrokreditprogramme für Frauen sind Teil von „TACARE“, und Mädchen bekommen Stipendien, um während und nach der Pubertät weiter zur Schule gehen zu können. Die Unterstützung und Bildung von Frauen hat überall auf der Welt zu kleineren Familien geführt und bildet den Grundstein für Familienplanung. Das Wachstum der Weltbevölkerung ist ein Riesenproblem. Heute gibt es „TACARE“ in zweiundfünfzig Dörfern. Rund um Gombe entstehen die Wälder langsam wieder. Auch weiter im Süden, wo mehr als die Hälfte der Schimpansen in Tansania leben, schützen wir die Wälder. Die Menschen in den Dörfern sind unsere Partner. Sie nutzen Smartphones und Tablets, um den Zustand des Waldes zu dokumentieren. Sie dokumentieren zum Beispiel illegale Baumfällungen oder auffällige Tierspuren, oder sie beobachten Schimpansen und andere Wildtiere. All das wird in eine Cloud geladen, in die Global Forest Watch, die von Esri, Google Earth, Digital Globe und der NASA unterstützt wird. „TACARA“ wurde in einer ähnlichen Form in Uganda, in der Demokratischen Republik Kongo, in Kongo-Brazzaville, Burundi und im Senegal übernommen.
Becker |
Und trotzdem: Immer mehr Tiere verschwinden. Die Biodiversität ist hochgefährdet. Der Klimawandel beschleunigt sich. Haben Sie manchmal das Gefühl, daß uns die Zeit davonläuft?
Goodall |
Ich bin fest davon überzeugt, daß wir uns jetzt zusammentun und gemeinsam sehr hart arbeiten müssen. Wir müssen mehr Geld in den Umweltschutz investieren. Sonst wird uns die Zeit davonlaufen. Was mag das für zukünftige Generationen bedeuten? Es heißt, kommende Kriege werden um Wasser geführt. Ganze Städte stehen schon ohne Wasser da. Entwaldung und Treibhausgase führen zum Klimawandel. Ich befürchte, wir haben nur ein sehr kleines Zeitfenster. Darum reise ich an dreihundert Tagen im Jahr um die Welt, um die Menschen zu sensibilisieren und zum Handeln zu bewegen.
Becker |
Und wie geht es Ihnen, wenn Menschen, die in wichtige Ämter gewählt werden, den Klimawandel bestreiten? Etwa Donald Trump?
Goodall |
Diejenigen, die sich Sorgen machen, müssen nun um so härter arbeiten und für die Wahrheit kämpfen!
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