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Lernen durch Verantwortung, Service Learning, offene Hochschulen – all diese Worte und Konzepte wirren zur Zeit durch deutsche Hochschulen und Universitäten. Es heißt, Service Learning würde das Demokratieverständnis der Studierenden verbessern und mehr Menschen zu zivilgesellschaftlichem Engagement motivieren. Doch was ist dran an der Zauberlösung Service Learning? Und was lässt sich kritisch sehen?

Die Ursprünge des Service Learning gehen zurück auf das didaktische Modell des Erfahrungslernens von John Dewey. In diesem wird davon ausgegangen, dass die Verknüpfung von theoretischem Wissen mit praktischen Erfahrungen und dem Lösen realer Probleme zu einem besonders intensiven Lerneffekt führen. Während das Konzept des Service Learning recht flexibel ist und unterschiedliche Varianten der Umsetzung vorstellbar sind, ist jedoch immer zentral, dass der theoretische Inhalt einer Lehrveranstaltung im Zuge einer Tätigkeit für das Gemeinwohl praktisch umgesetzt wird. Das bedeutet, dass es immer Kooperationen mit Engagementpartnern gibt und sowohl die Zusammenarbeit, als auch die gemachten Erfahrungen reflektiert werden. Es geht dabei nicht nur (wie etwa beim Praktikum) um die persönliche und berufliche Weiterentwicklung der Lernenden, sondern auch einen gemeinnützigen Dienst für andere Menschen. In verschiedenen Typen von Service-Learning Veranstaltungen, sind die Anteile unterschiedlich zu gewichten. Bestenfalls sind beide Parts gleich wichtig und halten sich die Waage.

Service Learning – die Akteure

Ein Service Learning-Projekt sollte demnach immer folgende Stationen beinhalten:

  1. Recherche (Suche nach realen Herausforderungen)
  2. Ideenentwicklung (in enger Zusammenarbeit mit dem Engagementpartner)
  3. Planung (begleitet durch Kompetenzgewinn im Rahmen des Seminars)
  4. Reflexion (im Seminar)
  5. Feedback (für alle Beteiligten)

Ein universitäres Service Learning-Projekt besteht aus mindestens drei Parteien: den Studierenden, den Dozent*innen und den Engagementpartnern. Begleitend zu der praktischen Tätigkeit der Studierenden soll an den Universitäten ein Seminar angeboten werden. In dem Seminar sollen wissenschaftliche Konzepte und Studien mit der praktischen Projektarbeit verbunden und Phasen der Reflexion angeregt werden. Die Engagementpartner helfen den Studierenden bei der Projektentwicklung, beraten und geben Feedback. Doch die Studierenden sind die aktiven Gestalter des Prozesses, führen Teamarbeiten durch, recherchieren selbstständig eine wissenschaftliche Basis und wenden ihr Konzept schließlich praktisch an. Für die Dozierenden ist es zentral, eine Vertrauensbasis zwischen Studierenden und den Engagementpartnern sowie eine wechselseitige Erwartungs- und Zielklarheit zu schaffen.

Die drei aktiven Parteien eines Service Learning-Projekts sowie die Hochschule profitieren unter anderem wie folgt von der Kooperation:

Hochschule Dozierende Studierende Engagementpartner
Profilschärfung durch Praxisbezug in der Lehre und Vermittlung von Schlüsselkompetenzen an Studierendeneue Impulse für Forschung und Lehre

Vernetzung der Universität, regionale Einbindung

 

Erweiterung des methodischen RepertoiresProfilierung des Portfolios

Verbesserung und Diversifizierung der Lehrqualität

Befähigung zum selbstgesteuerten Arbeiten und LernenEinblicke in Tätigkeitsfelder des zivilgesellschaftlichen Engagements

positive Wirkung auf gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein

interdisziplinäre Schlüsselkompetenzen

realer Bedarf wird gedeckt

personelle Unterstützung

wissenschaftliche Begleitung und Evaluation

Ein kritischer Blick auf Service Learning

Service Learning – Die ultimative Lösung oder Glorifizierung sozialer Ungleichheit?

Service Learning – Die ultimative Lösung oder Glorifizierung sozialer Ungleichheit?

Die gängige Literatur zum Thema Service Learning offenbart eine Zweiteilung: ein traditioneller Ansatz, welcher den Service Aspekt ins Zentrum stellt ohne jedoch ein System der Ungleichheit mitzudenken, und ein kritischer Ansatz, welcher die Reflexion und Demontierung von struktureller Ungerechtigkeit fokussiert. Critical Service Learning hat demnach zum Ziel, Macht auf alle Beteiligten zu verteilen und somit Hierarchien zu vermeiden, authentische Beziehungen zu fördern und mit einer sozialen Perspektive zu arbeiten. Dabei ist das Ziel, das Machtsystem so zu beeinflussen, dass der Service-Aspekt langfristig überflüssig wird, da die Ungleichheiten abgebaut werden.

Critical Service Learning ist eine Antwort auf Stimmen, welche traditionelles Service Learning als „erzwungenes Ehrenamt“ kritisiert, das Hierarchien bestärkt und paternalistische Züge annimmt. So heißt es etwa:

„Unless facilitated with great care and consciousness, “service” can unwittingly become an exercise in patronization. In a society replete with hierarchical structures and patriarchal philosophies, service-learning’s potential danger is for it to become the very thing it seeks to eschew.” (Pompa 2002: 68)

Service Learning muss demnach politisch gedacht werden, um eine Glorifizierung von sozialer Ungleichheit zu vermeiden. Denn klassisches Service Learning unterstützt Ungleichheiten sowie sogenanntes Othering und hilft vor allem bereits privilegierten Studierenden (Aram Ziai definiert Othering als „die Konstruktion einer […] Gruppe als „anders“, die dazu dient, die Identität einer Wir-Gruppe davon abzugrenzen und so zu konstituieren und somit politische Ansprüche und Ausschlüsse zu rechtfertigen.“ (Ziai 2010: 404).  Das bedeutet, dass Studierende im Rahmen ihres Service Learning-Projektes nicht nur ihre Arbeit reflektieren müssen, sondern auch die Ursachen sozialer Probleme, die Service Learning erst notwendig und sinnvoll machen. Erst dann, so die Theorie, profitieren die Studierenden auch über das gute Gefühl, etwas gemacht zu haben, hinaus von Service Learning und ein Wandel für die Gesellschaft wird angeregt (vgl. Mitchell 2008: 51).

Praktisch bedeutet dies, dass klassisches Service Learning Studierende zum Beispiel dazu anregt, obdachlosen Familien Essen zur Verfügung zu stellen. Kritisches Service Learning geht jedoch einen Schritt weiter und fordert Studierende dazu auf, politische und wirtschaftliche Entscheidungen zu untersuchen, die dazu führen, dass Menschen obdachlos sind und Hunger leiden, und solche Entscheidungen schließlich zu beeinflussen. Eine „kulturelle Safari“ soll dadurch verhindert werden. Durch diese Analyse bekommen Studierende ein Verständnis für die Problemursachen und können dadurch ableiten, wie Probleme am besten angegangen werden können, statt nur Symptome zu bekämpfen.

Service Learning – Die ultimative Lösung oder Glorifizierung sozialer Ungleichheit?

Service Learning – Die ultimative Lösung oder Glorifizierung sozialer Ungleichheit?

Critical Service Learning betont den Service-Aspekt besonders und kritisiert am klassischen Vorgehen, dass die Professionalisierung der Studierenden zu sehr im Fokus stünde. Wenn sozialer Wandel Ziel von kritischem Service Learning ist, bedeutet dies jedoch auch, dass vor allem solche Projekte umgesetzt werden sollen, die den Studierenden helfen, soziale Ungleichheit zu erkennen und daran zu arbeiten. Die Dozierenden müssen dabei unterstützend zur Seite stehen und Fragen aufstellen. Etwa: Wieso gibt es signifikante wirtschaftliche und soziale Unterschiede in unserer Gesellschaft? Wieso verlaufen die Bildungswege bestimmter sozialer Gruppen häufig weniger gut als die anderer sozialer Gruppen? Wieso müssen Menschen fliehen und was hat das mit unserem Wohlstand zu tun?

Doch der kritische Service Learning-Ansatz gilt als schwieriger umzusetzen als der traditionelle. So sollte nicht nur Kontakt zu klassischen Engagementpartnern bestehen, sondern auch kritischen Gruppen eine Stimme gegeben werden, die aktiv politisch arbeiten. Auch sind die positiven Einflüsse auf Studierende langfristiger und von daher schwieriger zu evaluieren. Die Studierenden sollen im Rahmen der Service Learning-Erfahrung ihre eigene Position und Sozialisierung in der Gesellschaft reflektieren. Durch ihre Projekt-Stellung als „Service-Leistende“ werden die Privilegien gegenüber den „Service-Empfangenden“ deutlich (sei es Alter, Bildung, Zeit, soziale Klasse o. ä.). Einhergehend mit der Selbstreflexion soll auch Macht im Allgemeinen reflektiert und kritisch betrachtet werden. Dabei soll nicht nur Diversität in dem Sinne mitgedacht werden, dass eine Gleichmachung von Unterschieden erfolgt, sondern vor allem auch auf unterschiedliche Privilegien, Chancen, Möglichkeiten und Zugänge zu Macht und somit bestehende Ungerechtigkeiten innerhalb einer Gesellschaft hingewiesen werden. Ein Othering im Sinne von einer Dichotomie von „uns“ und „den Anderen“ soll reflektiert und dekonstruiert werden. Dabei geht es darum, soziale Realitäten nicht durch Homogenisierung zu ignorieren, und trotzdem eine Begegnung auf Augenhöhe zu schaffen.

In dem immer begleitend stattfindenden Service Learning-Seminar soll eine theoretische Grundlage für diese Reflexion erarbeitet und praktische Unterstützung geschaffen werden. Das Seminar soll im Rahmen des kritischen Ansatzes zusammen mit Engagementpartnern und Vertretern der Zivilgesellschaft durchgeführt werden, um ihnen im Arbeitsprozess eine Stimme zu geben und die Reflexion zu ermöglichen. Durch weniger traditionelle Unterrichtsmethoden können Hierarchien aufgebrochen werden. Gleichzeitig soll das Seminar den Teilnehmenden einen Raum geben, sich gegenseitig kennen zu lernen. Sowohl für die Dozierenden, als auch für die Engagementpartner und Studierenden ist es wichtig zu wissen, wie der jeweilige Gegenpart aufgestellt ist und funktioniert. Das Seminar sollte so ausgerichtet sein, dass alle Beteiligten davon profitieren und keiner ausgeschlossen wird, etwa durch einen zu akademischen Sprachgebrauch. Auch hier ist die Begegnung auf Augenhöhe zentral. Eine gute Zusammenarbeit braucht jedoch Zeit, weshalb es für die Hochschule umso wichtiger ist, langfristige Kooperationen zu schaffen.

Service Learning – Die ultimative Lösung oder Glorifizierung sozialer Ungleichheit?

Service Learning – Die ultimative Lösung oder Glorifizierung sozialer Ungleichheit?

Also?

Service Learning ist ein Modewort und viele Hochschulen und Universitäten wollen sich momentan damit schmücken. Nachhaltige Projekte, die gesellschaftlich tatsächlich etwas bewegen sollen, kommen aber nicht umhin, sich die Kritik an Service Learning anzusehen und einen sensiblen Umgang mit Ungleichheiten, (globalen) Machtbeziehungen und Othering zu fördern. Da dies aber nicht nur mehr Zeit, sondern auch mehr Geld kostet, fällt es leider oft hinten runter. Ich hoffe, dass mehr Hochschulangehörige bestehende Projekte hinterfragen und neue Projekte kritisch begleiten. Nur dann kann Service Learning leisten, was es vorgibt: einen gesellschaftlichen Service und einen langfristigen Lerneffekt.

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Verwendete Quellen:

  • Ginwright, S. / Cammarota, J. 2002: New terrain in youth development: The promise of a social justice approach, Social Justice, 29(4), 82-95.
  • Mitchell, T. D. 2008: Traditional vs. Critical Service-Learning: Engaging the Literature to Differentiate Two Models, Michigan Journal of Community Service Learning, Spring 2008, pp.50-65.
  • Nationales Forum für Engagement und Partizipation (Hrsg.) 2013: Service Learning in der Lehrerbildung – Engagementförderung an der Schnittstelle von Hochschule und Schule, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., Berlin.
  • Pompa, L. 2002: Service-learning as crucible: Reflections on immersion, context, power, and transformation, Michigan Journal of Community Service, Learning, 9(1), 67-76.
  • Reinders, H. 2016: Service Learning – Theoretische Überlegungen und empirische Studien zu Lernen durch Engagement, Beltz Juventa, Weinheim/Basel.
  • Sigmon, R. L. 1994: Serving to Learn, Learning to Serve – Linking Service  with  Learning, Council  for  Independent Colleges Report.
  • Speck, K. et al. 2012: Wirkungen von Service Learning in Deutschland – Stand der Forschung, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
  • Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft 2013: Sozial und engagiert – Das Programm „Mehr als Forschung und Lehre“.
  • Ziai, A. 2010: Postkoloniale Perspektiven auf „Entwicklung“, in: Peripherie Nr. 120, 30., Jg. 2010, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 399-426.